Ein Blattl hat immer Angst!

Im Frühling erwachte ganz langsam ein kleines Blatterl auf seinem Zweigerl am Baum. Grad in dem Augenblick, als sich seine Blattknospe aufbrach und entfaltete, machte es seine Äuglein auf.  Erschrocken rollte es sich gleich wieder auf seinem Blattstängel zusammen.  Vor lauter Angst zitterte es wie Espenlaub. Neugierig geworden, öffnete  es ein Blattäuglein und schaute sich um. Am höchsten Zweigerl des Baumes war es aus ihrer Blattknopse hervorgebrochen.

Ringsherum hörte es viele lustige Stimmchen. Die anderen jungen Blatterl lachten und freuten sich über den Frühling und die Sonnenstrahlen. Sie genoßen es, endlich aus ihrer dicken harten und finsteren Knospenstube draußen zu sein.

Nur unser kleines ängstliches Blattl, konnte es überhaupt nicht verstehen, was hier oben so schön sein sollte. Ihm wurde ganz schwindelig! So blieb es zusammengerollt auf seinem Blattstängel hängen. Vor Schreck hatte es ganz vergessen, was Mutter und Vater Baum gesagt hatten, bevor es seine kleine Knospenstube verlassen hatte. Es solle sich ausrollen und die Sonnenstrahlen aufnehmen, damit es kraftvoll an ihrem Baum wachsen kann. Es soll sich mit den anderen Blattkindern anfreunden und sein Blattleben genießen.

Sein ganzes Leben lang jedoch, schwächelte unser Blattl vor sich hin.  Es saugte viel zuwenig Baumkraft-Flüssigkeit auf. Rollte sich nicht aus, um Sonnenenergie aufzunehmen. Bei Regen lies es sich nicht von ihrem angesammelten Schmutz reinigen, und vom Wind nicht trocknen.

Die anderen Blätter am Baum ermutigten es immer wieder,  gemeinsam mit ihnen die Sonnenenergie aufzunehmen, und mit Wind und Wetter zu spielen. Doch alles war vergebens. Es blieb ein Außenseiter, der nur dachte – die Sonne verbrennt mich, der Regen macht mich nass, und der Sturm und Wind reißen mich vom Baum.

So kam es, dass sich unser Blattl einsam und verlassen fühlte.  Der Frühling kam mit seiner ganzen Blütenpracht, die ein Baum nur entwickeln kann. Doch unser „immer Angst“ kneifte nur die Augen zu und zitterte vor dieser Veränderung. Veränderungen mochte es gar nicht. Es sollte immer alles so bleiben, wie es war.

Der Frühsommer duftete nach frischen gemähtem Gras. Der Duft der Früchte, war für unser angstvolles Blatt eine weitere Veränderung in seinem Leben, mit dem es nicht zu Recht kam.

So verging das ganze Jahr. Der Herbst mit seinen Stürmen kam immer näher.  Und im Baum unseres Blattes vollzog sich – wie jedes Jahr – ein Umwandlung. Die Saftadern des Baumes, pumpten immer weniger nährende Flüssigkeit durch. Die Natur stellte sich auf die Winterruhe ein. Dadurch färbten sich die Blätter vom Grün zu Rotbraun  und OrangGelb. So entstand  ein sehr schönes buntes Blätterkleid am Baum.

Nur unser Blatterl „ immer Angst“ bekam davon nichts mit… weil es meistens schmollend und zusammengerollt an ihrem Blattstängel am Zweig hin. Die anderen Blätter, ja, die freuten sich über ihre schönen bunten Kleider, die der Herbst nun hervorzauberte. Alle freuten sich schon auf ihre Reise mit dem Herbstwind.

Als  dies unser Angstblattl hörte, fürchtete es sich noch mehr. Es zitterte und bibberte, dass der Zweig auf dem es hing, mit bebte. Die Baumelfe Susi, die das ganze Jahr über den Baum pflegte, hatte nun die Nase voll, von diesem ewigen Angsthasen.

Susi hatte große Lust, das Blattl vom Baum zu stoßen. Aber das durfte sie nicht. Denn jedes Blatt hatte seine freie Entscheidung, wann es seinen Zweig verlassen will.  So sprach sie mit Elfenzungen auf den "Angsthasen" ein. Es solle doch mal die Aussicht genießen.  Die Welt um sich herum anschauen. Sich endlich voll entfalten. In die Sonne schauen.  Jedoch - alles war umsonst…

So kam der Tag an dem das Blatt sich nicht mehr halten konnte. Viele Blattgeschwister waren schon mit dem Herbstwind unterwegs und  jubelten und sangen mit dem Wind um die Wette.

Mit nur einem Auge blinzelnd schaute unser Angstblattl neugierig, was hier los  war. Vor Schreck vergaß  es sich mit dem Blattstängel am Baum festzuhalten. Ein kleiner Windstoss genügte und es segelte davon. Ängstlich bäumte  es sich dem Wind entgegen, entfaltete sich dadurch zu einem wunderschönen segelndem Blatt mit Rotbraunen und goldgelben Farben. Und weil es sich zur Wind-Abwehr vollkommen ausrollte,  wirbelte es mit seinen Blattgeschwistern erst recht durch die Lüfte.

Es riss die Augen vor Angst ganz weit auf, und erkannte, in welch herrlicher Landschaft es lebte. Der Wind trug es immer höher und höher hinauf. Nun lies er sein Blattl nimmer mehr los. Er zeigte ihm alles was es zuvor nie gesehen hatte. Obwohl es den schönsten Platz am Baum hatte. Ach, seufzte unser Blatt, war ich dumm!!! 

Der Baum war riesengroß. Wahrscheinlich der Größte weit und breit. Und rings um ihn herum war alles voller Leben. Es sah Kinder, die Drachensteigen ließen und bunte Blätter sammelten. Das kleine Blattl wurde traurig, als es erkannte was es alles versäumt hatte.

Der Wind sprach zu dem kleinen Blattl: „ach weißt du … dafür kannst du jetzt alles in vollen Zügen genießen. Ich trage dich über die ganze Welt. Wenn du magst, kannst du heute alles anschauen. Lass aber deine Augen offen! Ich zeige dir alles. Den Frühling den du verschlafen hast, und den Sommer mit seinen Früchten,  den Herbst und den Winter.  Ich trage dich mit meinem warmen Wind, durch Eis und Schnee zum Nord- und Südpol. Mein kühler Nacht-Wind bläßt dich über die Wüste. Und ich bringe dich wieder zurück zu deinen Baum, wo deine Blattgeschwister auf dich warten. Dann kannst du ihnen von deiner tollen Reise erzählen.  Zur Winterruhe legst du dich mit den anderen unter deinem Baum. Du kehrst zurück in den Schoß von Mutter Erde. Im neuem Jahr wirst du wieder in deiner Blattknospe heranwachsen! Und dann!, hoffe ich, dass du dein Leben  am Baum genießen kannst!"

Als sie wieder am Baum ankamen,  lies er das müde Blattl sacht auf die Erde sinken. Die anderen Blätter warteten schon ganz aufgeregt und wollten wissen, was es alles zu sehen gab. Ach war es schön auf dem Mutterboden zu liegen, mit den anderen Blättern zu quatschen und zu erzählen, wie schön diese Reise war. Und gemeinsam dann, in MutterErde hineinzuschlüpfen.

Doch der liebe Herbstwind blies jetzt kräftig in das bunte Herbstlaub am Boden und lies sie noch mal alle zusammen durch die Luft wirbeln. Immer höher und höher hinauf ging der Blätter-Wirbeltanz. Lustig und voller Unfug stoben sie durcheinander, auch die Baumelfe Susi folgte dem Blattltanz hinterher.

Müde von all diesen Erlebnissen und tanzen, kehrten sie zurück, landeten auf der Erde und krochen in ihre Winterhöhlen unter dem Baum.

Der nächste Frühling kam, und die Blattknospen bekamen Risse und sprangen auf. Unser Blattl leuchtete voller Freude schöner, als alle anderen Blätter am Baum. Es saß wieder auf seinem  Zweig, an der höchsten Stelle des Baumes.

Sich ganz ausrollend, streckte es sich der Sonne entgegen, dem Wind und dem Regen. Es wurde zum kräftigsten Blatt am Baum. An sein Leben vom Vorjahr konnte es sich noch recht gut erinnern. Sehr gerne erzählte es die Geschichten vom Blattl, das ängstlich zusammengerollt am Baum hing. Alle seine Erfahrungen mußte es immer wieder den anderen Blättern erzählen.

Sie freuten sich schon jetzt auf ihre gemeinsame Herbstwindreise und stellten sich vor - wie sie mit den Drachen der Kinder, um die Wette flogen.

Na? hast du auch schon einen Drachen gebastelt und läßt ihn mit dem Herbstwind fliegen... und siehst du auch die Blätter die mit dem Drachen im Wind tanzen?

Eine Geschichte von Barbara Oppitz 10.12.2018